Kirsten Ohlhagen: Liebe Carina, du bist Physiotherapeutin mit der Zusatzqualifikation für Beckenbodentherapie und ich freue mich, mit dir heute mal über das Thema über zu viel Spannung im Beckenboden zu sprechen. Meistens denken wir im Zusammenhang mit dem Beckenboden zuerst an Kräftigung. Das hat auch – vor allem nach der Entbindung – absolut seine Berechtigung. Es gibt aber auch Fälle, bei denen zu viel Spannung im Beckenboden vorhanden ist. Ich hatte zum Beispiel schon einmal eine schwangere Kursteilnehmerin, der ihr Gynäkologe gesagt hatte: „Ihr Beckenboden ist so fest – wir müssen einen Kaiserschnitt machen.” Woran kann man das selbst feststellen beziehungsweise wie spürt man das, dass man zu viel Spannung im Beckenboden hat?
Carina Failenschmid: Die meisten Frauen spüren unklare und periodenartige – nicht zyklusabhängige – Schmerzen im Unterleib beziehungsweise Bauchraum. Beim Geschlechtsverkehr, beim Niesen und Husten sowie generell im Sitzen. Kurz gesagt: bei allem, was „nach unten hin” Druck ausübt. Diese Schmerzen ordnen sie aber in den allerwenigsten Fällen dem Beckenboden zu – da sie a) gar nicht so recht wissen, wo der liegt und b) welches seine Aufgaben sind.
Viele Frauen suchen auch einen Arzt auf, weil sie bereits mit Inkontinenz zu kämpfen haben. Sie verlieren bei allem was stoßartig abläuft – wie zum Beispiel Husten, Niesen oder auch Lachen – tröpfchenweise Urin oder müssen zum Beispiel sehr häufig zur Toilette gehen.
Kirsten Ohlhagen: Worin liegen die Ursachen für diese Spannungen?
Carina Failenschmid: Die Hauptursache für hohe Spannungen sind Organsenkungen.
Kirsten Ohlhagen: Wie kommt es dazu?
Carina Failenschmid: Zum Beispiel dadurch, dass eine Frau nach der Geburt ihres Babys zu früh – in der Stillzeit – wieder anfängt zu joggen. Dann kann es dazu kommen, dass sich die Organbänder lockern und sich die Gebärmutter senkt und so ein permanenter Druck auf den Beckenboden ausgeübt wird. Dieser reagiert auf den Druck mit Gegendruck und entwickelt einen Hypertonus – also einen erhöhten Druck, der über die Norm hinausgeht. Das führt zu einer Starrheit, die schmerzhaft sein kann und sich auch auf die Blase oder weitere tiefe Beckenorgane auswirkt.
Wenn keine Organsenkung vorliegt, ist es meist schwierig, die Ursache für einen hypertonen Beckenboden herauszufinden. Das können im Extremfall sogar auch frühere Missbrauchsfälle sein. Generell stelle ich fest, dass es Frauen sind, die zur „Sympathikotonie” neigen. Bei ihnen ist das vegetative Nervensystem zugunsten des Sympathikus verschoben. Das ist der Nerv, der uns aktiv macht und auf Touren bringt, aber halt auch dafür sorgt, dass wir gestresst sind und nie Zeit haben und unsere To-do-Listen immer länger werden lässt. Der Sympathikus hat schon unsere Vorfahren in der Steinzeit dazu angetrieben entweder zu fliehen oder zu kämpfen.
Kirsten Ohlhagen: Wie ist es mit zu viel Sport? Manchmal wird ja auch eine hohe sportliche Aktivität mit einer zu hohen Anspannung im Beckenboden in Verbindung gebracht.
Carina Failenschmid: Im Leistungssportbereich ist es definitiv so. Es gibt Studien darüber, dass sehr viele Leistungssportlerinnen in jungen Jahren schon Probleme mit einer Hypertonus-bedingten Inkontinenz haben. Ob das auch auf „normale” sportliche Aktivitäten zutrifft hängt sicher stark vom Einzelfall ab.
Kirsten Ohlhagen: Und was hältst du zum Beispiel von Liebeskugeln?
Carina Failenschmid: Dadurch wird meistens auch eher eine Daueranspannung/ein Hypertonus hervorgerufen.
Kirsten Ohlhagen: Rätst du von „Beckenbodentrainern” – also von Produkten, die man zur Muskelkräftigung einführen soll – ab?
Carina Failenschmid: Jedenfalls immer dann, wenn die Beschwerden vorher nicht ärztlich abgeklärt wurden. Eine unklare Inkontinenz – und vor allem Schmerzen – müssen immer erstmal abgeklärt werden. Wenn dann tatsächlich ein schwacher Beckenboden attestiert wird, kann man das gerne als zusätzliches Hilfsmittel einsetzen – mehr aber auch nicht, denn damit erreicht man kaum die Anspannung der Beckenbodenmuskulatur, sondern hauptsächlich die der Gesäßmuskulatur.
Kirsten Ohlhagen: Das ist im Endeffekt „geschummelt” …
Carina Failenschmid: Wenn Frauen jetzt wirklich Schwierigkeiten damit haben, ihren Beckenboden anzusteuern, dann empfehle ich höchstens mal den Einsatz eines Biofeedback-Gerätes – vom Arzt verordnet. Dort wird die Anspannung dann sichtbar. Ansonsten bin ich kein Freund von Hilfsmitteln, die man von außen einführt, weil sie meistens sowieso nicht dort ankommen, wo man die Anspannung haben möchte.
Kirsten Ohlhagen: Wie wirkt es sich auf den Beckenboden aus, wenn eine Frau eine Veranlagung zur Hypermobilisation hat und zum Beispiel auch im Becken – in der Symphyse und den Iliosakralgelenken – besonders flexibel und locker ist? Führt das dazu, dass der Beckenboden dann zu fest wird?
Carina Failenschmid: Ja, natürlich. Das liegt an der Kompensation. Wir kompensieren ja schwache Körperregionen grundsätzlich mit stärkeren. Für das Becken bedeutet das, dass ein ohnehin schon fester Beckenboden noch fester – und damit zu fest – werden würde. Und gerade in der Schwangerschaft, wenn das Baby schwerer und schwerer wird, antwortet der vielleicht schon ohnehin überbeanspruchte Beckenboden dann mit noch mehr Gegendruck und zu viel Spannung.
Kirsten Ohlhagen: Therapierst du Frauen auch schon in der Schwangerschaft zu dem Thema?
Carina Failenschmid: Meistens nur, wenn sie primär wegen Lendenwirbelsäulen-Beschwerden zu mir kommen – das ist so ab dem vierten Monat. Dann untersuche ich auch den Beckenboden mit, da Lendenwirbel und Beckenboden ja immer auch direkt zusammenspielen.
Kirsten Ohlhagen: Das ist ja auch der Zeitpunkt, wo sich die Haltung aufgrund des immer schwerer werdenden Bauches verändert, und die Frauen beginnen die typische Schwangerenhaltung – Hohlkreuz und Knie auseinander – einzunehmen.
Carina Failenschmid: Dazu kommt die Hormonausschüttung, die das Gewebe weicher und weicher macht – damit das Baby Platz hat und der Beckengürtel auseinandergehen kann. Im Zuge dessen wird auch der Beckenboden weicher – obwohl er ja gegenhalten soll. Darum holt er sich auch aus allen Fasern die Spannung heraus, die er bekommen kann.
Kirsten Ohlhagen: Kommen wir mal zu ganz konkreten Beispielen, was man tun kann, um den zu festen Beckenboden zu entspannen – zum Beispiel ein Kirschkernkissen „in” den mittleren Rücken legen. Warum macht man das – was bewirkt das?
Carina Failenschmid: Grundsätzlich wird ja bei einem starren oder hypertonen Beckenboden vor allem symptomatisch gearbeitet. Wenn vorab organisch alles abgeklärt ist und ich das Gefühl habe, dass die Frau ohnehin eine sehr starre Person mit sehr viel Sympathikusaktivität ist – also dauernd „kämpfen” oder „flüchten” möchte – dann rate ich gerade im Bereich der unteren, mittleren Brustwirbelsäule zur Wärmeanwendung. Aus dem einfachen Grund, weil da die ganzen Nervenstränge entlanglaufen, die für die Sympathikusaktivität zuständig sind und Wärme sympathikusdämpfend arbeitet. Dadurch „fährt” also alles ein bisschen runter. Das Gleiche gilt übrigens auch für ansteigende Fußbäder oder auch Igelbälle, mit denen man die Fußsohle massiert – auch sie dämpfen den Sympathikus.
Ein weiterer Therapieansatz bei muskulären Disbalancen ist die Bearbeitung der umliegenden Strukturen – sowohl der tiefen Bauchmuskulatur und der Gesäßmuskulatur als auch der Beinmuskulatur – oder auch die direkte manualtherapeutische Behandlung der Sitzbeinhöcker, an die man von außen sehr gut drankommt.
Dazu kommen noch Übungen, die die Frauen auch allein gut machen können: Zum Beispiel indem sie auf einem Igel- oder Tennisball sitzen und so die Beckenbodenmuskulatur stimulieren.
Oder eben ein gezieltes Beckenbodentraining, das nach dem Prinzip „Entspannung durch Anspannung” funktioniert. Ein Muskel, der konzentriert aktiviert wird, kann sich danach einfach umso effektiver entspannen.
Kirsten Ohlhagen: Kann auch eine bestimmte Atemtechnik helfen?
Carina Failenschmid: Atemtechniken funktionieren auch sehr gut – zum Beispiel, wenn man lernt, bei der Einatmung „loszulassen”. Dadurch senkt sich das Zwerchfell und der Beckenboden lässt – reflektorisch bedingt – nach.
Kirsten Ohlhagen: Wenn es auf der einen Seite die Möglichkeit gibt, sympathikushemmend zu arbeiten – existiert dann auch die Möglichkeit, anregend/aktivierend auf den Parasympathikus einzuwirken? Würde man das machen?
Carina Failenschmid: Grundsätzlich gilt: Alles was den Sympathikus dämpft, fördert und stärkt den Parasympathikus – unseren Ruhenerv. Ihn physiotherapeutisch direkt anzusprechen ist schwieriger.
Kirsten Ohlhagen: Bei zu viel Beckenbodenspannung können auch Übungen oder Haltungen helfen, die den Beckenboden aktiv entlasten, oder?
Carina Failenschmid: Genau – dazu gehören zum Beispiel die Kerze, die Päckchenhaltung oder auch die Schulterbrücke. Alles Übungen, bei denen die Organe zurück in den Bauchraum „rutschen” und der Beckenboden entlastet wird.
Kirsten Ohlhagen: Und wie ist es mit Dehnungen für den Beckenbereich? Ich denke da vor allem an eine ausbalancierte Muskelspannung der Oberschenkel-Innen- und -außenseiten durch die Froschdehnung oder Drehsitzhaltungen.
Carina: Dehnungen sind „immer” passend. Sie helfen sowohl im Falle eines zu schwachen als auch eines zu starken Beckenbodens.
Kirsten Ohlhagen: Wir waren eben beim Massieren der Fußsohlen. Die sind ja im Prinzip die unterste Querschicht in unserem Körper. Dazu kommen dann noch der Beckenboden, das Zwerchfell …
Carina Failenschmid: … der Kehlkopf, der Mundboden und unser Kleinhirnzelt.
Kirsten Ohlhagen: Was zeichnet diese Querschichten aus?
Carina Failenschmid: All diese querlaufenden Strukturen im Körper arbeiten im Einklang miteinander. Das heißt, ich kann über die Fußmuskulatur oder den Mundboden die Beckenbodenmuskulatur aktivieren. Wenn ich zum Beispiel an einem Finger sauge, hebt sich reflektorisch der Beckenboden.
Kirsten Ohlhagen: In meinen Schwangerenkursen ermuntere ich die Frauen immer, dass sie ihren Unterkiefer lockerlassen sollen, da der Unterkiefer über die tiefe Rückenmuskulatur mit dem Beckenboden verbunden ist.
Carina: Genau richtig – der Kiefer verläuft ebenso quer und die Bandscheibe zwischen den Kiefergelenken gehört auch zu den waagerechten beziehungsweise querlaufenden Strukturen im Körper. Zusätzlich spielt hier aber auch unser vegetatives Nervensystem noch eine wichtige Rolle – Stichwort: Nächtliches Zähneknirschen. Dabei wird eine generell zu hohe Anspannung verarbeitet – die oder der Betroffene „beißt” sich im übertragenen Sinne durch. Auch das führt zu weiterer Spannung. Oftmals sehe ich den Patienten das schon an, wenn sie zur Tür hereinkommen.
Kirsten Ohlhagen: Wie das? Worauf guckst du?
Carina Failenschmid: Ich schaue mir den vorderen Halsbereich an. Wenn der deutlich weniger Falten aufweist als für das Alter eigentlich typisch sind, dann gibt mir das bereits einen ersten Hinweis auf die „Spannungslage”. Auch ein Blick auf die Füße ist sehr aussagekräftig: ein sehr hoher Rist oder sehr viel Spannung auf dem Fußgewölbe deutet dann oftmals auch bereits auf eine zu hohe Beckenbodenspannung hin.
Alle diese unterschiedlichen Faktoren spielen eine wichtige Rolle bei dem Thema „starrer Beckenboden”. Aufgrund dieser Komplexität ist es auch viel schwieriger einen starren Beckenboden zu lösen als einen schwachen zu kräftigen. Hinzu kommt, dass viele Patienten diese Themen nicht gerne hören beziehungsweise die Gründe dahinter nicht wahrhaben wollen. Sie müssten sich dann nämlich öffnen und zulassen, dass man eventuell sehr tief „bohren” muss, um herauszufinden, was ihnen tatsächlich zu schaffen macht und warum der Beckenboden letztendlich so starr ist.
Kirsten Ohlhagen: Liebe Carina, ich danke dir sehr für dieses Gespräch.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlecht.