Kirsten Ohlhagen: Hast du auch das Gefühl, dass es eher die gut ausgebildeten Frauen sind, die sich nach der Geburt schwerer tun mit ihrem neuen Alltag? Die, die auf der „Karriereleiter” schon weiter oben standen, und ihren Job „im Griff ” hatten und jetzt mehr oder weniger ausgebremst sind? Oder trifft das eigentlich jede?
Kristina Lunemann: Das stelle ich tatsächlich auch fest. Das sind Frauen, die generell eine sehr gute Struktur in ihrem Leben haben, die sehr viele Dinge machen beziehungsweise gemacht haben; die auch sehr viel Arbeit und Fleiß investiert haben, um bestimmte Schul- und Universitätsabschlüsse und natürlich Karriereziele zu erreichen.
Wenn sie dann ein Baby bekommen, stecken sie sich neue Ziele, die sie gewohnt konsequent verfolgen und zielsicher erreichen wollen. Sie werden dann jedoch mit einem tendenziell chaotischen Alltag konfrontiert, der sie unglaublich viel zusätzliche Kraft und Energie kostet – allein damit sie ihre gewohnten Strukturen überhaupt aufrechterhalten können.
Plötzlich ist alles anders: Sie werden aus ihrer bekannten Struktur herausgerissen und wissen plötzlich nicht mehr, welche Schritte sie als nächstes gehen müssen, um auf möglichst direktem Weg ins Ziel zu gelangen. Und jetzt als Mama sind sie wie auf einer Hängebrücke – das heißt: im Prinzip ist jeder Schritt den sie machen, irgendwie wackelig. Man setzt den Fuß noch nicht richtig auf, da weiß man schon: es bleibt unsicher und wackelig. Und das geht noch lange so weiter. Man kann auch noch gar nicht sagen, wie es morgen oder nächste Woche wird und wie man es denn überhaupt jemals irgendwie wieder schaffen soll Fuß zu fassen und sicheren Schrittes weiterzugehen. Alle Sicherheiten, die du vorher glaubtest zu haben, sind weg.
Die Folge: „emotionale Vulkanausbrüche”, eine gewisse Panik und einfach das Gefühl, das es einen verrückt macht. Die gute Nachricht dabei ist: was „ver-rückt” ist, kann man auch wieder „gerade-rücken”. Denn dahinter steckt ja nichts anderes als: Ich befand mich bislang in meinem Leben an einem Platz, an dem ich gut funktioniert habe und den ich gut kannte – und jetzt haben mich die Umstände an einen anderen Platz „ver-rückt”.
Kirsten Ohlhagen: Und so ein Alltag mit Kind birgt ja auch einfach viele Unwägbarkeiten. Im Berufsleben ist das vergleichsweise einfacher. Die meisten Kollegen funktionieren ja relativ berechenbar und die Arbeitsstrukturen hat man früher oder später auch verinnerlicht. Ein Kind dagegen macht entweder gerade einen Entwicklungsschub durch oder hat schlecht geschlafen oder oder oder … – das bringt Chaos in den Alltag.
Das erste Jahre ist das schwierigste Jahr. Danach weiß man, wie „der Hase läuft”
Kristina Lunemann: Ich erinnere mich daran, als mein Sohn gerade auf die Welt gekommen war. Da haben die Leute gratuliert und manche sagten sofort: „Super und dann kann ja jetzt auch bald das Zweite kommen … ”. Da bin ich sofort innerlich zusammengebrochen. Genau wie bei dem Gedanken, dass die nächsten 18 Jahre vorprogrammiert sind – da habe ich sofort angefangen zu weinen. Egal ob im Supermarkt an der Kasse oder sonst wo. Ich konnte das einfach nicht mehr zurückhalten – das war alles so eine lebensverändernde Situation. Alle diese Aufmerksamkeit, Fürsorge und Verantwortung, die von mir verlangt wurde – das alles hat mich komplett aus der Bahn geworfen und überfordert.
Heute weiß ich – und das gebe ich allen jungen Müttern mit auf den Weg: Das erste Jahr ist das schwierigste. Du wirst so viel über dich und über dein Kind lernen und Seiten an dir entdecken, von denen du – geschweige denn dein Partner! – noch nicht mal wusstest, das du sie hast.
Das Tolle daran: nach rund einem Jahr hast du diese ursprünglich krasse Veränderung gemeistert und deine Routine entwickelt. Dann hast du dich daran gewöhnt – du weißt, wie der Hase läuft. Das ist ein sehr beruhigendes, bestätigendes und Sicherheit gebendes Gefühl. Bei der einen geht das halt schneller und bei der anderen dauert es ein bisschen länger – auch da sind wir ja alle ganz individuell.
Kirsten Ohlhagen: Bis dahin ist es manchmal ein langer Weg mit Höhen und Tiefen … Wann spricht man eigentlich genau von einer Wochenbettdepression, wann von „Heultagen” oder eben vom „Babyblues”? Wie grenzen sich die zueinander ab – oder bezeichnen sie eigentlich alle dasselbe?
Kristina Lunemann: Der klassische Babyblues beziehungsweise die „Heultage“ treten so um den dritten, fünften Tag nach der Geburt auf. Charakteristisch für beide ist, dass sich die Situation wieder recht schnell normalisiert – bei der einen Frau schneller, bei der anderen dauert es länger. Bei allem, was über 2 Wochen hinausgeht, besteht die Gefahr, das es in eine postpartale Depression mündet. Dazu gehören auch Angst- und Zwangsstörungen, die ähnliche Symptome wie zum Beispiel Erschöpfung, Traurigkeit, Versagensgefühle oder auch Schlaf- und Konzentrationsschwierigkeiten aufweisen.
Ich nutze diese Begriffe jedoch nicht, weil ich den Frauen nicht zusätzlich noch einen „Stempel aufdrücken” möchte. Wichtig ist ja allein, zu klären: Wo kommt das her? Was belastet dich denn so?
Die Symptome reichen von „Hamsterrad” bis „Käseglocke”
Kirsten Ohlhagen: Hast du das Gefühl, sie sind eher ohnmächtig oder immer gestresst – Stichwort „Hamsterrad”?
Kristina Lunemann: Das ist individuell hochgradig unterschiedlich. Die eine hatte eine traumatische Geburt und fühlt sich jetzt wie „unter einer Käseglocke”, weil sie die Außenwelt nicht mehr so richtig wahrnehmen kann; eine andere hat schon drei Kinder und ist jetzt mit dem vierten – was jetzt vielleicht auch nicht gerade so ein Wunschkind war – im Alltag heillos überfordert; und wiederum eine andere hat aus heiterem Himmel Panikattacken und wird von plötzlich auftretenden Wellen der Traurigkeit umgehauen.
Kirsten Ohlhagen: Was sind die Auslöser dafür? Wodurch wird das getriggert?
Kristina Lunemann: Um das herauszufinden und damit das Übel an seiner Wurzel zu packen, rate ich immer, ein Gefühlstagebuch zu führen. Dann erkennt man recht bald ein Muster, dass uns dann dazu dient, an einer Stelle tiefer einzusteigen. So begeben wir uns auf die Suche nach dem Auslöser.
Kirsten Ohlhagen: Hast du das Gefühl, dass die meisten Frauen bei ihrem Partner Hilfe finden?
Kristina Lunemann: Die Frauen, die zu mir kommen, die haben sich gut überlegt, dass sie Hilfe brauchen. Sie haben sich ganz bewusst dafür entschieden, diesen Schritt zu machen. Das heißt, die kommunizieren dass auch innerhalb der Familie und die erfahren tatsächlich einen relativ guten Rückhalt bei ihrem Partner.
Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es doch die ein oder andere Beziehung gibt, wo man diese Ebene – trotz Kind – als Paar einfach nicht erreicht oder sich in dieser Form nicht traut, sich zu öffnen.
Dabei darf man eins nie vergessen: Ich habe mich noch nie so geöffnet wie in dem Moment der Geburt. All die Monate der Schwangerschaft habe ich genutzt, um mich und meinen Körper weich werden zu lassen – damit ich an dem Tag, an dem ich gebäre, meinem Baby den Raum geben kann, den es braucht.
Kirsten Ohlhagen: Und diese Weichheit – körperlich und seelisch – bleibt ja auch über die ganze Stillzeit bestehen.
Kristina Lunemann: Genau – und das muss auch so sein, damit ich auf die Signale meines Babys eingehen kann und sich eine ganz enge Verbindung voller Liebe aufbauen kann.
Diese gesteigerte Emotionalität führt dazu, dass viele Frauen sagen: „Ich sehe keine Nachrichten mehr, ich kann keine Krimis mehr gucken – ich fange immer ganz schnell zu weinen an, wenn ich das alles sehe und höre.”
Kirsten Ohlhagen: Zu der Erwartungshaltung der Mutter an sich selbst, kommt ja auch noch die Erwartungshaltung der Mutter an ihr Baby beziehungsweise Kind. Da kullern dann in meinen Rückbildungskursen oft die Tränen, weil diese nicht so „funktionieren” wie ihre Mami es gerne hätte – auch im Vergleich zu dem, was andere dann von ihrem Baby erzählen. Erlebst du das auch?
Kristina Lunemann: Ja, das sind oft Mütter, die generell einen hohen Anspruch an ihre Umgebung haben. Viele Frauen sind sich aber auch gar nicht darüber im Klaren, dass sie darunter leiden, dass sie gerade einen – oftmals unbewusst schweren – Abschied von der Schwangerschaft erlebt haben. Klar: die Geburt ist das Ziel, aber es ist auch einfach schön gewesen schwanger zu sein – das Baby war schon da, es war aber in dir drin und der Tagesablauf wurde nicht so massiv beeinflusst. Man konnte so beides haben – gewohntes Leben und Baby. Das war so ein bisschen „zwischen den Welten wandern”. Und das wird von der Geburt beendet.
Kirsten Ohlhagen: Ich habe ja auch mein Baby nie wieder so nah bei mir wie zum Ende der Schwangerschaft hin …
Kristina Lunemann: … und zwar ein Baby, dessen Bedürfnisse mich (noch) nicht 24 Stunden am Tag aktiv fordern, das schläft und mich noch nicht in eine ganz andere, neue Rolle drängt. Und dieser einmalige Zustand ist plötzlich vorbei wenn das Baby auf der Welt ist. Da kann schon mal eine Art „Trauergefühl” in uns hochsteigen.
Kirsten Ohlhagen: Manche Mütter sagen ja auch, dass sich ihr „zu weicher und zu großer” Bauch so „leer” anfühlt …
Kristina Lunemann: Stellen wir uns das jetzt doch mal ganz einfach vor: Ich gebäre und bin einerseits irgendwo enttäuscht und auch traurig, dass die Schwangerschaft vorbei ist – „muss” aber auf der anderen Seite total superglücklich sein. Das ist eine Situation, in der die eigenen, ganz tiefen Gefühle auf eine vorgegebene Erwartungshaltung treffen. Das ist eine „schräge„ und oftmals stressige Situation für die jungen Mütter . Und wenn das Baby dann nicht so „funktioniert” wie erwartet, kommt noch mehr Stress dazu.
Wie man auch dreht und wendet: Wenn das Baby „was hat” führt kein Weg daran vorbei, auch sich selbst zu fragen: „Könnte das irgendwas mit meinen – auch vielleicht verdrängten – Gefühlen zu tun haben, die tief in mir arbeiten?”
Kirsten Ohlhagen: Mein Gefühl ist, dass viel mehr Frauen sich das eingestehen müssten und sich Hilfe suchen sollten – so wie du sie anbietest. Das ist ja auch gar nicht als langfristig „großes Ding” zu sehen. Du bietest ja auch das virtuelle Babyblues Café an – was hat es damit auf sich?
Kristina Lunemann: Im Rahmen dieses virtuellen Treffens möchte ich der Frau die Möglichkeit geben, sich ein bisschen mehr zu öffnen. Es gibt dabei nicht „die und die” Handlungsstrategie – das Ganze ist eine sehr persönlicher Arbeit, eine Entwicklung, bei der ich immer wieder gucken muss, dass die Teilnehmerin auch ein Stück aus ihrer Komfortzone herauskommt – denn nur so kann sie wachsen. Das ist sehr persönlich und findet daher immer nur unter vier beziehungsweise – wenn der Partner dabei ist – sechs Augen statt.
Darüber hinaus bin als Beraterin beim Verein „Schatten und Licht” tätig, bei dem es sich auch um postpartale Belange von Frauen dreht. Hier gibt es eine Selbsthilfegruppe, ein offenes Treffen, bei dem sich die Mütter untereinander austauschen können.
Kirsten Ohlhagen: Ich danke dir für das Gespräch Kristina.
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arzt- oder Hebammenbesuch in keinem Fall ersetzen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlecht.