Ich habe Kristina um dieses Interview gebeten, weil wir es beide mit „Tabuthemen“ zu tun haben. Wenn auch ganz unterschiedlich gelagert, wird in unserer Gesellschaft weder über das Thema Babyblues und postpartale Depressionen noch über Beckenbodenschwäche und die damit einhergehende Inkontinenz gesprochen. Alles sind aber Themen, die junge Mütter beschäftigen und für die es wirksame Behandlungs- beziehungsweise Trainingsmöglichkeiten gibt. Ich freue mich sehr, dass Kristina im vorliegenden Interview viele wichtige Hinweise und Hilfsansätze dafür bereithält.
Kirsten Ohlhagen: Wann kommen die Frauen zu dir?
Kristina Lunemann: Das ist tatsächlich ganz unterschiedlich. Viele sind zum zweiten Mal schwanger und wollen einfach ihre Erfahrungen vom ersten Mal nutzen, um sich auf die kommende Geburt vorzubereiten. Dazu gehört, dass sie ihre Schwangerschaft und die Geburt noch einmal „Revue passieren” lassen, sich nochmal in die erste Zeit nach der Geburt hineinfühlen und sich fragen: Was ist gut gelaufen/was ist nicht so gut gelaufen? Diese Frauen wollen einen Weg finden, um einerseits das aufzuarbeiten, was sie bereits erlebt haben und sich anderseits nochmal anders auf die Geburt vorbereiten als beim ersten Mal – mit all dem Wissen, dass sie seitdem für sich gewonnen haben. Andere Frauen stellen fest, dass sie sich nicht ganz wohl fühlen, eine generelle Unsicherheit oder auch besonders viele Ängste spüren und dieses noch mal thematisieren möchten.
Kirsten Ohlhagen: Was macht den Frauen Angst? Sind das körperliche Veränderung, ist dass die Angst vor der Verantwortung?
Kristina Lunemann: Sie haben ganz oft Angst vor dem „Unsichtbaren“ was da auf sie zukommt, was sie noch gar nicht benennen können. Das sind diffuse Ängste. Manchmal haben sie in ihrer Geschichte auch Depressionen erlebt, sind emotional besonders empfindlich und wissen ganz genau, dass sie in bestimmten Situationen so und so reagieren und wollen sich dann nochmal Unterstützung holen – eine Stütze an ihrer Seite haben. Einfach um das, was auf sie zukommt, besser aufzufangen.
Der andere Teil der Frauen, der zu mir kommt, hat entweder traumatische Geburten erlebt – sei es ein ungeplanter Kaiserschnitt oder andere Komplikationen, die aufgetreten sind – oder hat einfach eine Zeit im Krankenhaus erlebt, die sie komplett überfordert hat. Zum Beispiel weil Ärzte und Helferinnen Grenzen überschritten haben und sie im Prinzip so schockiert entlassen wurden, dass sie nun ganz großen Gesprächsbedarf haben.
Diagnose: Babyblues. Was hilft? Wie lange? Wann kommt er?
Und wie äußern sich die Symptome?
Kirsten Ohlhagen: Hast du das Gefühl, dass Frauen heutzutage eher zu verkopft sind und zu viel nachdenken und sich dadurch im Prinzip das Leben selbst schwer machen, anstatt auf ihren gesunden Menschenverstand/ihr Gefühl zu hören? Ich kenne Mütter, die in den ersten Wochen rund um die Uhr damit beschäftigt sind, möglichst alle Daten ihres Babys zu erfassen und zu bewerten. Anstatt mal auf ihr Bauchgefühl zu hören beziehungsweise sich auf ihren Instinkt zu verlassen.
Kristina Lunemann: Ich glaube, dass sehr viele sich so verhalten und gerade junge Mütter sehr oft in solche Situationen gelangen. Dahinter steht immer irgendwo eine Angst – und hinter dieser Angst steht dann wieder ein bestimmtes Thema, das für die Frauen hochgradig stressig ist. Das rationale Kontrollieren ihres Babys gibt ihnen dann auf eine gewisse Art und Weise eine Sicherheit – weil sie wissen, was sie tun und die Kontrolle haben. Sie folgen dann fast schon zwanghaft einem definierten Handlungsablauf.
Kirsten Ohlhagen: Was kann man dagegen tun?
Kristina Lunemann: Wenn sich eine junge Mutter davon befreien möchte, muss sie lernen, ihre Unsicherheit auszuhalten. Sie muss lernen, gedanklich einen Schnitt zu machen und sich zu fragen: „Was ist das eigentlich für eine Angst, die ich da habe? Wo kommt die ursprünglich her? Wo „sitzt“ mein Stress, wo fühle ich den?“ Was passiert den schlimmstenfalls, wenn ich mein Baby heute mal nicht fünfmal wiege? Ist das wirklich so schlimm wie ich glaube?“ Vor allem muss sie sich auch mal fragen: „Was passiert eigentlich mit mir?“ Doch davor schreckt sie ganz oft zurück; bricht vorher ab und lässt lieber wieder das bewährte Handlungsmuster aus „Wiegen – Messen – Kontrollieren“ ablaufen, das ihr Sicherheit gibt.
Um mich von Ängsten zu befreien, muss ich mich Ihnen stellen – sprichwörtlich Licht ins Dunkle bringen. Denn sie sind wie Schatten, die in mir arbeiten und immer wieder auftauchen. Wie eine verschlossene Schublade, in der sich Dinge befinden, die ich nicht genau kenne, die mir aber ein Unwohlsein bereiten. Nur indem ich diese Schublade öffne, kann ich das Unbekannte in den Griff kriegen.
Und um auf deine Ausgangsfrage zurückzukommen: Ja, ich finde, junge Mütter sind – wie wir eigentlich alle heutzutage – schon sehr verkopft. Wir werden/wurden aber auch so erzogen.
Kirsten Ohlhagen: Sich seinen Ängsten/Sorgen/Befürchtungen aktiv zu stellen – ist das leichter gesagt als getan? Wie gelingt das in einem ersten Schritt?
Kristina Lunemann: Ich kann all meinen Mut zusammennehmen und in einer Art Selbstversuch das Aushalten einer Situation trainieren – ohne wieder eine Gegenaktion zu starten, wie ich es bisher gemacht habe. Oder ich kommuniziere meine Anspannung und suche Unterstützung – zum Beispiel bei meinem Partner. Frei nach dem Motto: „Pass mal auf, ich mache das immer so und so und möchte das aber anders angehen und darum widme ich mich jetzt mal diesem Thema ganz bewusst und offen.“
Kirsten Ohlhagen: Ich habe in meinen Schwangerenkursen den Eindruck gewonnen, dass die Frauen heute extrem gut über die Entwicklung ihres Babys informiert sind und sehr engagiert ihre To-do-Listen abarbeiten. Sie verfügen über 3D-Ultraschallbilder, kennen alle Kinderwagentests… Worüber sie praktisch gar nicht sprechen, sind Themen wie „Was macht das alles mit mir? Wie verändert die Schwangerschaft die Beziehung zu meinem Partner und wie wird es erst, wenn wir Eltern sind?”
Hast du das Gefühl, das wir zu wenig über die emotionale Seite nachdenken? Über das, was da kommt? Sollten wir uns eher mal auch mit der nahenden Mutter-/Elternrolle statt mit der Babyausstattung beschäftigen?
Kristina Lunemann: Kann ich im Vorfeld schon dafür sorgen, dass ich auch emotional gut vorbereitet bin? Ja und nein.
Ja, indem ich offen über meine Sorgen und Bedenken bezüglich dessen, was da nach der Geburt auf mich zukommt, rede und es nicht tabuisiere. Indem ich der Tatsache ins Auge sehe, dass da ein ganz großer Wechsel, eine Rollenveränderung stattfindet: Von dem individualisierten Leben, das ich bislang geführt habe, hin zu einem Leben, das vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass ich Mutter bin. Und dieser Wechsel dauert seine Zeit – und das muss ich zulassen. Du wirst zwar von „heute auf morgen“ Mutter, aber der Prozess des „Mutterwerdens“ dauert einfach. Das ist vergleichbar mit der Entwicklung eines Mädchens zur Frau – das ist auch eine unbestimmte Zeit, auf die man aktiv keinen Einfluss nehmen kann.
Die Praxis sieht allerdings oft so aus, dass die Frauen über diese Zeit und die damit verbundenen Sorgen und Ängste nicht sprechen wollen und man sie gar nicht erreicht – das wird bewusst völlig ausgeblendet. Die konzentrieren sich voll und ganz auf den Kinderwagenkauf, den „Nestbau“ und ihre ellenlangen To-do-Listen. Das ist ja auch motivierend, bringt Spaß und Befriedigung. Das löst definitiv Glückgefühle aus, wohingegen das freiwillige Beschäftigen mit der Frage „Wie wird mein Leben als Mutter wohl sein?” das Potenzial hat, ganz andere Gefühle auszulösen – nämlich Krisengefühle! Da können ja auch Themen hochkommen, die ich früher schon verdrängt habe.
Ich glaube, wenn Frauen über die Zeit nach der Geburt offener sprechen und sie als längeren Prozess/als natürliche Rollenveränderung akzeptieren würden, die einfach „ihre Zeit“ braucht – dann würde vielen schon ein große Last von den Schultern genommen werden. Die Wahrnehmung, den Blick mehr auf diesen Prozess zu richten – das fände ich schön.
Kirsten Ohlhagen: Ja, auch wirklich im Hinblick darauf, dass die Veränderungen nicht mal eben mit dem Herausschieben aus dem Kreissaal erledigt sind, sondern einen viel viel größeren Zeithorizont haben.
Kristina Lunemann: Die Geburt erscheint dann immer als das eine große Ziel – dabei geht es danach ja erst so richtig los. Viele Frauen fangen dann an zu realisieren: „Ich bin gar nicht mehr ich. Ich habe gar nicht mehr dieses Leben, das ich vorher hatte”.
Kirsten Ohlhagen: An der Stelle merkt man immer, dass bis zur Geburt alles durchgeplant wurde und danach mit der Wochenbettphase eine neue Zeit der großen Ungewissheit beginnt. Gerade wenn der frischgebackene Vater dann nach den ersten drei rosaroten Wochen zu Hause im Wochenbett wieder arbeiten muss und die junge Mutter mit dem Baby allein zu Haus ist und fortan die ganze Verantwortung tragen muss!
Kristina Lunemann: Ja, das Mutter werden bringt drastische Veränderungen im Leben mit sich, die das Potential haben, durchaus existenzielle Krise auszulösen. Darüber sind sich die Frauen – gerade beim ersten Kind – oftmals nicht im Klaren drüber.
Dahinter steht vor allem auch ein Kommunikations- beziehungsweise Gesellschaftsproblem: Wir werden da heute in ein kaltes Wasser geschubst – weil das ganze Thema vorher nicht offen angesprochen wird beziehungsweise die Kreise/die Netzwerke fehlen, innerhalb derer eine Schwangere sich mit anderen, erfahrenen Frauen austauschen kann. Das war früher anders, als wir noch in weitaus größeren Familien lebten.
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“. So ein „Dorf” kann auch für die junge Mutter sehr hilfreich sein, indem es ihr einfach zur Seite steht, wenn sie Hilfe oder Rat braucht. Das ist heute schwierig.
Wenn ich Glück habe, sind meine Mutter und meine Schwiegermutter wenn ich gebäre beide nicht mehr berufstätig und wir verstehen uns alle gut. Dann habe ich zwei Frauen, die mich unterstützen können. Das muss aber auch erstmal so klappen! Grundsätzlich finde ich jedoch , dass wir einfach zu wenig „Frauen-Power” um uns herum haben, deren Wissen wir ganz selbstverständlich nutzen können.
Kirsten Ohlhagen: Es gibt ja auch die Art von „Frauen-Power”, die noch mehr Druck erzeugt. Wenn ich sie sehe, wie sie gestylt – und das betrifft auch das Geschwisterkind – zum Rückbildungskurs kommen, dann hab ich eher das Gefühl, das sie sich nicht wirklich über ihren Alltag austauschen, sondern lieber zeigen möchten, wie leicht ihnen alles von der Hand geht. Statt sich gegenseitig zu stützen, machen sie sich das Leben eher schwerer.
Kristina Lunemann: Ja, das stimmt. Diese Frauen sind sehr im Außen und wenig mit ihrem Inneren verbunden. Sie horchen nicht in sich hinein, reflektieren nicht und fragen sich nicht „Wie geht es mir gerade?” Das ist ja auch einfacher – weil der Blick nach innen mich ja auch wieder sensibler, verletzlicher, offener macht. Small-Talk dagegen ist oberflächlich und einfacher zu gestalten – niemand braucht sich wirklich zu öffnen. Da geht es dann meistens nur um „hübscher, schneller, schlanker”. Das ist eine Seite von uns Frauen, die ist streckenweise regelrecht böse.
Kirsten Ohlhagen: Dazu kommt oftmals noch der Druck durch Social-Media-Aktivitäten – sich daran zu messen macht’s dann noch schwerer.
Kristina Lunemann: Wenn eine Frau in dieser Situation gut mit sich ist und auch wirklich gut zurechtkommt mit allem und andere Themen gerade nicht thematisieren muss – dann ist das ja auch absolut okay!
Wenn eine junge Mutter aber für sich feststellt, dass es ihr schlecht geht – dann muss sie sich tatsächlich auch selbst fragen: „Möchte ich das nicht lieber mal thematisieren?“.
Ich finde, das Thematisieren, dieses „nach außen” kommunizieren ganz wichtig! Denn in dem Moment, indem ich ein Thema anspreche, Gedanken ausspreche und meine eigenen Worte höre, setzt oft bereits eine erste kleine Veränderung in mir selbst ein.
Und ich mache ganz viele Erfahrungen dabei: Ich gucke in das Gesicht des anderen, ich nehme Reaktion wahr, ich bekomme Gedanken, Äußerungen, Worte zurück auf die ich reagiere – vielleicht steht entsteht sogar ein Austausch auf einer Herzebene. Das sind Erfahrungen, die eine junge Mutter – und alle, die dazu neigen, Probleme in sich „hineinzufressen”, sich einfach mal trauen sollte zu machen. Und jede/jeder sollte sich auch mal fragen: „Was soll denn schon passieren, wenn ich mich öffne? Wovor hab ich solche Angst, wenn ich mich öffne? Warum will ich diese oberflächliche Ebene nicht verlassen?”
Denn eins ist klar: Wenn ich ein Kind habe, muss ich tatsächlich lernen, mich zu öffnen. Denn mein Kind wird für den Rest meines Lebens mein Spiegel sein. Das heißt: es wird mir durch sein Verhalten all die Themen spiegeln, die ich – mit großer und langfristig vergeblicher Mühe – versuche, in meinem Unterbewusstsein zu verdrängen.
Ich komme schlussendlich in diesem Prozess des „Mutter-werdens” nicht daran vorbei, mir meine Themen genau anzuschauen und peu à peu meine vorhandenen Ängste zu überwinden. Jede in ihrem ganz eigenen Tempo.
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arzt- oder Hebammenbesuch in keinem Fall ersetzen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlecht.